Aus dem Buch: „Das Risiko fliegt mit“
von Tim van Beveren
„Was sich auf die Wirklichkeit bezieht, ist nicht sicher,
und was sicher ist, ist nicht wirklich.“
Albert Einstein
Ich fliege nach wie vor sehr gern, und weder als Passagier noch als sogenannter „verantwortlicher Luftfahrzeugführer“ plagen mich Ängste – am wenigsten dann, wenn ich eigenhändig ein mir bekanntes und in seinem technischen Zustand vertrautes Flugzeug fliege. Mein Denken und Handeln sind in dieser Situation seit meiner ersten Flugstunde einem Prinzip unterworfen: Prävention. Gerade in der Fliegerei ist man gut beraten, „vorausblickend“ zu agieren. „Bewege dein Flugzeug niemals irgendwo hin, wo du nicht schon vorher in deinen Gedanken gewesen bist.“ Dieser Grundsatz, den Fluglehrer und Ausbilder nicht oft genug wiederholen können, besitzt seit 100 Jahren, in denen der Mensch den Luftraum eroberte, uneingeschränkte Gültigkeit. Denn nicht das Fliegen hat sich in einer rasanten technischen Entwicklung verändert. Was sich wirklich verändert hat, sind die Flugzeuge, ihre Systeme und die nationalen sowie internationalen Vorschriften, die weltweit höchste Sicherheitsstandards garantieren sollen.
Sicherheit im Luftverkehr. Für die einen ein Reiz-, für die anderen ein Tabuthema – und für Millionen von Reisenden das Wichtigste, sobald sie in ein Flugzeug steigen. Natürlich kann und wird es niemals einen hundertprozentigen Schutz vor Unfällen geben. Viele Katastrophen aber könnten verhindert werden, wenn die Ursachen und Fehler genauestens analysiert und die verantwortlichen Institutionen die konsequente Bereitschaft zeigen würden, schnell und unbürokratisch aus eben jenen Fehlern zu lernen. Prävention ohne Ursachen- und Fehlerforschung ist sinnlos, auch und vor allem in Fragen der Flugsicherheit. Um so unverständlicher ist es, dass fast jeder Zwischenfall der jüngsten Vergangenheit auf Defizite verweist, die längst erkannt sind, aber nie behoben wurden. Und immer häufiger kommt dabei der „human factor“ ins Spiel: Hinter den Unfällen und Beinahe-Katastrophen steht zunehmend menschliches Versagen bis hoch in die Managementebenen von Airlines, Wartungsbetrieben, Herstellern und staatlichen Aufsichtsbehörden. Das Sicherheitsnetz hat klaffende Lücken bekommen. Werden diese nicht geschlossen, sind weitere Katastrophen unvermeidlich.
Der amerikanische Flugzeughersteller Boeing hat diese Entwicklung schon Anfang der Neunzigerjahre vorausgesehen. Wenn man nicht massiv gegensteuere, hieß es damals, käme es im Jahr 2000 alle 14 Tage zu einem Flugzeugunglück. Schon 1995 wurde die Prognose von der Realität übertroffen: Nach Angaben der Rückversicherer für Flugzeug- und Personenschäden gab es weltweit 32 große Abstürze, damit lag der Schnitt unter den prognostizierten zwei Wochen, kleinere Unfälle mit reinen Sachschäden nicht eingerechnet. Erfreulicherweise hat sich diese Tendenz nicht konstant fortgesetzt, sodass die Zahl der Getöteten bei Unglücken mit Verkehrsflugzeugen in den Jahren 2002 bis 2004 deutlich unter 1.000 pro Jahr lag. Aber die Statistik kann genauso rasch wieder in die andere Richtung weisen, zumal in naher Zukunft eine neue Kategorie von Großflugzeugen zum Einsatz kommt, die bis zu 800 Menschen befördern können. Es bleibt zu hoffen, dass der Airbus A380 bei aller technischen Innovation nicht zum traurigen Spitzenreiter der künftigen Unfallstatistik avanciert.
Verändert hat sich im Laufe der Jahre nicht nur die Technik, sondern auch das Rahmengebilde des Systems „Luftfahrt“, und hier liegen meiner Meinung nach die gravierendsten Schwachstellen. Dabei verfügt die Luftfahrt durchaus über nationale Aufsichtsbehörden zur Überwachung der Flugsicherheit, die auf internationaler Ebene zusammenarbeiten. So gibt es in Deutschland das Braunschweiger Luftfahrtbundesamt (LBA), in England die Civil Aviation Authority (CAA), in Frankreich die Direction Général de l’Aviation Civile (DGAC) und in den USA die Federal Aviation Administration (FAA). Über bilaterale Abkommen werden die meisten Anordnungen einer Behörde von den Schwesterbehörden übernommen und umgekehrt. Das gilt heute vermehrt auch im Bereich der Neuzulassung und Zertifizierung von luftfahrttechnischem Gerät und Bauteilen. Aber darf es sein, dass sich diese Flugaufsichtsbehörden lediglich von nationalen Interessen und Kosten-Nutzen-Analysen leiten lassen?
Zu trauriger Berühmtheit hat es in dieser Hinsicht die amerikanische FAA gebracht, die deshalb sogar in Washingtoner Politikerkreisen „Grabsteinbehörde“ genannt wird. Denn die FAA muss wie jede andere US-Behörde den zu erwartenden Nutzen und die entstehenden Kosten gegeneinander abwägen, bevor sie eine Sicherheitsvorschrift erlässt, und die Mühlen der Administration mahlen bekanntlich langsam – manchmal eben zu langsam. Doch der Bürokratismus in Sicherheitsfragen ist kein rein amerikanisches Phänomen. Auch in Europa wird das Verhältnis von Kosten versus Nutzen immer häufiger über die Sicherheit gestellt. Ob die neu gegründete European Aviation Safety Administration (EASA), die künftig die Aufgaben der Joint Aviation Administration (JAA) wahrnimmt, in das gleiche Fahrwasser rutscht wie ihr amerikanischer Gegenspieler bleibt abzuwarten. Zumindest ist auch diese europäische Behörde schon jetzt von ehemaligen Industrievertretern unterwandert, wie ein Blick in die Biografien des Managements zeigt.
Neben den Aufsichtsbehörden verfügen die meisten Nationen über eine unabhängige Organisation zur Untersuchung der Flugunfälle, etwa die deutsche Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) in Braunschweig oder das National Transportation Safety Board (NTSB) in den USA. Doch was nutzen deren Erkenntnisse, wenn die daraus resultierenden Sicherheitsempfehlungen nicht verbindlich angeordnet werden können? Die Empfehlungen des NTSB oder des BFU gelten lediglich als Vorschläge; die Umsetzung bleibt den Luftaufsichtsbehörden vorbehalten. Dabei wäre schnelles Handeln dringend erforderlich. Alle in den letzten Jahren durchgeführten Untersuchungen und die darin eindeutig identifizierten Gefahren haben nämlich in ihrer Quintessenz eines gemeinsam: Die Resultate sind bei näherer Betrachtung mehr als nur besorgniserregend – und die Sorge vertieft sich angesichts der Tatsache, wie schleppend die Informationen von den Aufsichtsbehörden verarbeitet werden.
Vor allem in Europa, wo in der EASA die divergierenden nationalen Auffassungen zu einem Konsens gelangen müssen, verzögern sich viele Anordnungen und Gesetzesinitiativen auf unbestimmte Zeit. Nicht zu unterschätzen ist auch der weitreichende Einfluss von Lobbygruppierungen speziell aus der Industrie und den Airlines, die in Europa wie in den Vereinigten Staaten die Entscheidungsprozesse lahmlegen können. Nur eine Gruppe von Betroffenen hat keine Lobby: die der Passagiere. Deren Interessen werden zwar offiziell durch die Politik vertreten; auf welcher Seite die Regierenden wirklich stehen, zeigt sich jedoch immer dann, wenn es um Zugeständnisse an die Flugzeugindustrie geht, die nur mit dem Zauberwort „Arbeitsplätze“ zu argumentieren braucht.
Warum zum Beispiel gibt es immer noch keine Vorschrift für Kindersitze in Flugzeugen, obwohl die Diskussion darum seit über zehn Jahren geführt wird? Wenn man ein Kleinkind ungeschützt auf dem Rücksitz eines Autos transportiert, ist ein Bußgeld fällig; aber die Airlines dürfen ihren Passagieren und besonders ihren Passagierinnen weiterhin ungestraft zumuten, die Kinder im Arm zu halten, wenn der Flieger auf über 200 Stundenkilometer beschleunigt. Eine nicht geringe Zahl von Flugunfällen, bei denen die Überlebenschancen eigentlich recht hoch waren, zeigt, wie wenige Chancen eine Mutter beim Wirken von Beschleunigungskräften von 3 G hat, ihr Baby oder Kleinkind festzuhalten. Für die Mutter ist das so, als ob ihr 12 Kilogramm schweres Kind plötzlich 36 Kilogramm wiegen würde. Ebenso verhält es sich bei Turbulenzen. Hier wurden und werden Säuglinge reihenweise verletzt, weil sie nicht wie die erwachsenen Passagiere angeschnallt werden können. Einzig die LTU bietet seit Herbst 2004 die Möglichkeit eines Kindersitzes für die jüngsten Fluggäste an. Ein erfreulicher Schritt, denn bislang teilen die Flugbegleiter renommierter Airlines immer noch den als Wirbelsäulen-Brecher berüchtigten „Loopbelt“ für Kleinkinder aus, der am normalen Sicherheitsgurt befestigt ist. Die Kinder sitzen festgeschnallt auf dem Schoß ihrer Eltern. Bei großer, abrupter Beschleunigung laufen sie Gefahr, in einer Art „Klappmessereffekt“ zwischen den Oberschenkeln und dem Oberkörper der Erwachsenen eingequetscht und so unwillentlich am Rückgrat tödlich verletzt zu werden. Diese Missstände sind lange erwiesen. Trotzdem konnten die Aufsichtsbehörden keine gesetzliche Auflage an die Airlines durchsetzen. Die Lobbyisten der Fluggesellschaften verweisen regelmäßig auf den Gewinnausfall, den strengere Vorschriften besonders in den Ferienreisezeiten durch den Wegfall von Vollzahler-Plätzen bewirken würden.
In den offiziellen Verlautbarungen der Airlines ist von solchen ökonomischen Überlegungen natürlich keine Rede. Dort wird man nicht müde, der Sicherheit der Passagiere „oberste Priorität“ zuzuweisen. Nach jedem Unfall wird es dann aber sehr schnell still um die hochgesteckten Ziele und Versprechungen. Nach wie vor werden die kritischen Vorkommnisse in der Luftfahrt am liebsten unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit abgelegt, da die Fluggesellschaften fürchten, der offene Umgang mit Informationen könne die Klientel verunsichern. Diese antiquierte Haltung wird bei uns besonders gerne von der Lufthansa Pressestelle gepflegt.
Doch nicht nur gegenüber den Medien und somit der Öffentlichkeit, auch untereinander spricht man so gut wie gar nicht oder aber erst mit erheblicher Zeitverzögerung über sicherheitsrelevante Ereignisse. Häufig werden die Sachverhalte geschönt, um ja kein schlechtes Bild abzugeben. Aufsichtsbehörden legen Vorfälle unter der Kategorie „Vertraulich“ ab, konkrete Anfragen bleiben mit dem Hinweis auf den Datenschutz unbeantwortet. Für mich drängt sich da die Vermutung auf, dass die Behörden über interne Unzulänglichkeiten hinwegzutäuschen gedenken.
Und kommt es dann am Ende tatsächlich zu verbesserten Sicherheitsvorschriften, ist man erstaunt, welch großzügige Fristen den Airlines von den staatlichen Stellen eingeräumt werden, um die Defizite zu beseitigen. Statt künftigen Katastrophen vorzubeugen, wird mit dieser „Verzögerungstaktik“ der Grundstein für weitere Flugunfälle gelegt. So war auch der Absturz von Swissair Flug 111 am 2. September 1998, bei dem 229 Menschen getötet wurden, letztlich das Resultat solch schleppenden administrativen Handelns. Sie alle kamen ums Leben, weil Fehler und daraus resultierende potenzielle Gefährdungen zwar erkannt, aber nicht angemessen kommuniziert und folglich auch nicht abgestellt wurden. Vielen Beteiligten waren die katastrophalen Auswirkungen dieser Versäumnisse gar nicht bewusst. Doch es gab auch Stimmen, die schon einige Zeit vor dem Eintritt der Tragödie auf entsprechende Sicherheitsmängel hinwiesen und deren Warnungen entweder auf „Dienstwegen“ versickerten oder aufgrund von „dramatischer Fehleinschätzung“ nicht zu den Verantwortlichen durchdrangen.
Die Bemühungen der Unfallermittler haben in den letzten Jahren mitunter recht groteske Züge angenommen. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele, nicht zuletzt auch in Europa. Zwar sind die Unfalluntersucher heute vorsichtiger, wenn es darum geht, der Besatzung mal eben schnell die Schuld an einer Katastrophe zuzuschieben, und das ist sicher ein Fortschritt in die richtige Richtung. Die dezidierte Fehler- und Ursachenanalyse bleibt dennoch nicht selten auf halber Strecke stecken. Die Verantwortlichen in den Chefetagen bei Flugzeugherstellern, Airlines und Aufsichtsbehörden werden fast nie beim Namen genannt, weshalb man nur in ganz wenigen Fällen die wahren Verursacher oder Dulder zur Verantwortung ziehen kann. So wächst in aller Regel in ein paar Monaten genügend Gras über ein „bedauerliches Missgeschick“, und man geht zur Tagesordnung über. Die Presse- und Kommunikationsabteilungen leisten ein Übriges, üben sich im Verharmlosen oder nutzen ungeniert einseitige Statistiken, um ihre Darstellung der Geschehnisse zu untermauern. Da es – auch wegen der komplizierten Materie – immer weniger Journalisten gelingt, das Kartell des Schweigens und der gezielten Desinformation zu durchbrechen oder zu unterwandern, dringt nur wenig über die wahren Hintergründe und Ursachen von Flugkatastrophen an die Öffentlichkeit. Hinzu kommen gerade auf Seiten der Redaktionsleiter die Bedenken, im Zweifelsfall von einer Airline oder einem Hersteller mit einer millionenschweren Klage überzogen zu werden. Und in der Medienwelt spielen mitunter auch Überlegungen mit, ob ein Artikel oder ein Fernsehbeitrag durch das ins Visier geratene Unternehmen mit der Stornierung von Werbeaufträgen geahndet werden könnte. Wirtschaftliche Interessen haben allem Anschein nach nicht nur Vorrang vor Sicherheitsinteressen, sondern auch vor den Informationsbedürfnissen der Öffentlichkeit.
Völlig überfordert scheinen letztlich diejenigen zu sein, die mit der Ahndung von Sicherheitsversäumnissen von Amts wegen betraut sind: die Juristen, speziell die Staatsanwaltschaften und die Richter. Immer wieder hört man von Prozessen, in denen die Angehörigen der Opfer eine Entschädigung einklagen, so gut wie nie jedoch wird den Verantwortlichen eines Flugunfalls der Prozess gemacht. Wenn ein Autofahrer einen Unfall verursacht, bei dem ein Mensch zu Tode kommt, gibt es immer einen Prozess. Bei einem Flugzeugabsturz ist das eher selten der Fall. Auch hier werden die legitimen Bedürfnisse der Öffentlichkeit hinter den Interessen der Airlines und ihrer Lobby klar zurückgestellt. Das ist auf Dauer mehr als bedenklich und konterkariert fundamentale juristische Grundsätze sowie leider auch die Bestrebungen nach mehr Sicherheit.
Dieses Buch soll der Tendenz des Schweigens, Vertuschens und Ignorierens entgegenwirken. Es beschäftigt sich daher mit einer Reihe von Vorkommnissen und Unfällen aus den letzten Jahren und versucht, hinter die Ebene der offiziellen Verlautbarungen zu dringen. Es will Fehleinschätzungen, Versäumnisse und Schwachstellen im System „Flugsicherheit“ aufzeigen, die geradezu exemplarischen Charakter haben. Denn für mich steht nach wie vor fest: Es kann nie genug getan werden, um die im Flugverkehr lauernden Gefahren möglichst effektiv auszuschließen. Das Risiko, das etwas passiert, fliegt immer mit. Doch das Rezept, es weitgehend zu minimieren, ist mehr als einfach: Notwendig ist ein konsequent angewandtes Präventionsdenken.
Wir – und damit meine ich nicht nur diejenigen, die dem Traum vom Fliegen erlegen sind, sondern alle zahlenden Flugreisenden, die Tag für Tag auf die Flugsicherheit vertrauen, dürfen uns nicht stillschweigend mit sinkenden Sicherheitsstandards zufrieden geben. Eine solche stillschweigende „Duldung“ konkreter oder potenzieller Gefährdungen verhindert nichts. Im Gegenteil: Aus gesellschaftspolitischer Perspektive käme sie einem geduldeten Massenmord gleich. Die Unterwanderung der Sicherheitsmaßstäbe, die durch Behörden zum Wohle aller erlassen wurden, gerade durch die Industrie und deren Lobby ist alarmierend. Letztendlich steht dabei nicht nur die Sicherheit der Passagiere auf dem Spiel, sondern es ist auch eine Frage der Ethik und Moral. Oder haben sich die ehemals geschützten Werte wie das Leben und die Gesundheit eines Menschen in unserem Denken schon so radikal zugunsten von Wirtschaftlichkeit und Profit verschoben? Falls Sie so denken, lesen Sie dieses Buch besser nicht.
KMIA, im April 2005
Tim van Beveren