EGYPTAIR MS 804

Berlin, 25. Mai 2016

Wir leben heute in einer digitalen Informationswelt. Nachrichten und Meldungen prasseln kontinuierlich in großer Vielfalt auf uns herein. Immer schwerer fällt es hier für den Konsumenten von Informationen die „Spreu vom Weizen“ zu trennen. Aber auch viele meiner Kolleginnen und Kollegen haben damit ihre Mühe, angesichts immer knapperer Ressourcen, Budgets und vor allem Einem: dem Faktor Zeit.

Während man, zu Beginn meiner journalistischen Karriere nach einem solchen Ereignis manchmal stunden- oder tagelang gebannt auf den Fernschreiber im Redaktionsbüro starrte oder aber vor Ort selber mit Augenzeugen sprach oder im Umfeld der offiziellen Sprachrohre (Airline, Polizei, Flugunfalluntersuchungsbehörden oder Ministerien) ausharrte, muss heute auf einmal alles ganz schnell gehen. Die Frage nach der Quelle und der Glaubwürdigkeit scheint belanglos und sekundär geworden zu sein. Und die sogenannten „Leitmedien“ erhalten da auch schon mal oft einen eigentlich unverdienten Vertrauensvorschuss, – immerhin es sind ja Leitmedien.

Dabei mutet es für mich immer häufiger bizarr an, was nach jedem Flugzeugunglück über uns hereinbricht. So war es auch mit Egyptair Flug MS 804, der sang- und klanglos in den frühen Morgenstunden des 19. Mai 2016 einfach über dem Mittelmeer von den Radarschirmen verschwand.

Um 04:00 Uhr MEZ berichtete die Airline, dass einer ihrer Flüge vermisst wird. Knapp zwei Stunden zuvor war der Kontakt zur Maschine unvermittelt abgebrochen, gerade als die Maschine in einer Flughöhe von 37.000 Fuss (11.278 Meter) aus dem griechisch überwachten Luftraum in den ägyptischen Luftraum einflog. Weitere zweieinhalb Stunden später erschien über Twitter ein weiteres Statement, in dem Egyptair mitteilte, dass sich die Maschine zum Zeitpunkt ihres Verschwindens vom Radar um 1:30 Uhr MEZ ca. 280 Kilometer vor der Küste Ägyptens befunden habe.

Seitdem, und gerade mal 6 Stunden nachdem die Katastrophe eingetreten war, geistern annähernd monoton die gleichen Fragen durch alle TV- und Radio-Äther: Was führte zum Absturz von EGYPTAIR Flug MS 804? Dabei ist genau das die Frage, die – wie eigentlich jeder wissen sollte, insbesondere jede/r halbwegs erfahrene Journalist/In die meist erst Wochen, Monate oder sogar Jahre nach einem solchen Ereignis und nach akribischen Untersuchungen geklärt werden kann. Eine Frage also, die sich umso mehr eigentlich für jeden seriösen Profi in dem Mediengeschehen verbietet, desto weniger offiziell bestätigte Informationen zu so einem Zeitpunkt verfügbar sind. Doch offenbar hat die ungehemmte Spekulation über „was wäre“, „was hätte“ und die teilweise daraus abgeleiteten und sich so auf Dauer manifestierenden Unterstellungen aus Sicht von programmverantwortlichen Entscheider positive Auswirkungen auf die viel beschworenen Einschaltquoten und/oder die Auflage- bzw. Klickzahlen im Internet.

Das war eklatant auch hier wieder zu beobachten, denn bis zum Abend, also knapp 22 Stunden nach dem Verschwinden der Maschine, wusste die Welt eigentlich nicht mehr oder weniger als zuvor: Ein 13 Jahre alter Airbus A320 der ägyptischen Airline mit 66 Menschen an Bord wird über dem Mittelmeer vermisst, ein Absturz ist wahrscheinlich.

Doch das reichte offenbar nicht. Mit einem insistierenden Nachdruck, den man sich sonst bei anderen Themen eigentlich von Journalisten wünschen würde, sollten auf Gedeih und Erbrechen offenbar unbedingt Bestätigungen für einen Terroranschlag konstruiert werden.

Besonders peinlich erschien in dem Gemenge dann am späten Abend auch, dass ausgerechnet Egyptair zurückrudern musste und eingestanden hätte: Eine frühere Meldung über angeblich gefundene Wrackteile war falsch gewesen. Das ging zurück auf eine Twitter-Nachricht einer Kollegin (nicht des Networks) von CNN und es stellte sich als Falschmeldung heraus. Denn in Wahrheit hat Egyptair nie dementiert, im Gegenteil: mit Datum 20.05.2016 setzte sie die Meldung vom Fund erneut ins Netz.

Dabei hätte gesunder Menschen- und Sachverstand mit Sicherheit dazu geführt, dass eine Vielzahl von dann nicht mehr haltbaren Hypothesen erst gar nicht als „Nachricht“ das Licht der Welt erblickt hätten. Leider kann man sich als Journalist in diesem Zusammenhang auch offenbar nicht mehr so einfach auf ehemals renommierte Agenturen und Nachrichtendienste verlassen.

Jetzt am Tag „Zwei“ kommen so langsam etwas fundierte Meldungen zusammen:

  1. Eine Explosion, wie zuerst von Agenturen und Zeitungen unter Berufung auf angebliche Augenzeugen gemeldet, hat es nicht gegeben. Dies wurde auch durch Satellitenbilder des US Geheimdienstes inzwischen ausgeschlossen. Woher meine verehrten Kolleginnen und Kollegen offenbar immer schließen, dass die Auswertung solcher Satellitenbilder nur eine Frage von Minuten wäre, kann ich leider nicht nachvollziehen. Spätestens seit dem Abschuss einer Boeing 777 der Malaysian Airlines am 17. Juli 2014 über der Ukraine, sollte das auch den Berufsanfängern klar geworden sein. Übrigens: auch hier waren die ersten Medienberichte hauptsächlich auf die vermeintlichen „Echtzeit-Radarbildern“ von kommerziellen Flugverfolgungsdiensten wie Flightradar24 gestützt. Demnach war die Maschine aber zunächst angeblich weit im russischen Luftraum vom „Radar verschwunden“. Nachdem dann klar war, wo das Wrack am Boden lag, korrigierte der Anbieter seine „Daten“. – George Orwell lässt grüßen… Es wäre schön, wenn man endlich einmal in der Medienwelt begreifen würde, dass es sich hier um digital aufbereitete Bilder von Transponder-Signalen der Flugzeuge handelt, die mithilfe nicht offiziellem Bodenempfängern aufgezeichnet werden und daher mit dem sogenannten „Primär Radar“ der zivilen und militärischen Fluglotsen und Luftraumüberwachungszentren überhaupt nichts zu tun haben. Es handelt sich bei den von diesen und vergleichbaren Diensten zur Verfügung gestellten Daten lediglich um Informationen die aus dem sogenannten Automatic Dependent Surveillance-Broadcast (ADS-B) gewonnen werden. Das funktioniert im Prinzip so: Ein Flugzeug erhält im Flug eine Positionsbestimmung von einem GPS Satelliten. Der Transponder des Flugzeuges sendet daraufhin ein Signal u.a. mit dieser Positionsbestimmung. Dieses Signal kann am Boden von bestimmten Empfängern aufgefangen werden. Wie gut und zuverlässig dabei diese Informationen sind, hängt nicht zuletzt davon ab, wie viele solcher Empfänger über einem bestimmten Fluggebiet zur Verfügung stehen und diese an Flightradar 24 senden. Über den Meeren sind daher diese Daten erheblich ungenauer, da es eben nicht so viele bzw. auch überhaupt keine Sender gibt.
  2. Insofern ist also auch noch nicht klar, ob es sich beim Absturz der Maschine mit der amtlichen Registrierung SU-GCC um einen terroristischen Anschlag gehandelt hat oder nicht und ob irgendein andersgeartetes „foul-play“ im Spiel gewesen ist. Schon das Ausbleiben einer Bekenner-Meldung sollte in diesem Zusammenhang allerdings sehr stutzig machen.
  3. Am frühen Nachmittag nach dem Verschwinden des Flugzeuges bestätigte der griechische Verteidigungsminister auf einer Pressekonferenz, dass die Maschine gemäß der von den Militärs ausgewerteten Radarbilder zunächst fast eine 90 Grad Kurve nach links geflogen sei und dann anschließend fast einen Vollkreis nach rechts. Dabei habe das Flugzeug rapide an Höhe verloren. Offenbar standen aber die griechischen Militärs zu diesem Zeitpunkt nicht im direkten Kontakt mit ihren ägyptischen Kollegen oder offiziellen Stellen dort. Auch werden dort offenbar solche amtlichen Erkenntnisse nicht nachvollziehbar publiziert. Das macht die Situation natürlich nicht gerade einfacher.
  4. Am Abend bestätigte dann Egyptair, dass Wrackteile gefunden worden seien. Aufgrund einer Twitter-Nachricht von CNN wurde dann aber kurz darauf behauptet, Egyptair hätte diese Aussage zurückgezogen. Leider falsch, im Gegenteil, mit Datum vom 20. Mai bekräftigte Egyptair die Aussage: Es seien Wrackteile im Suchgebiet gefunden worden.
  5. Am frühen Nachmittag des 20. Mai werden Meldungen bestätigt, dass die ägyptische Marine erste Leichenteile und weitere Wrackstücke geborgen hat. Gegen 15 Uhr veröffentlicht die ESA ein Satellitenfoto, dass einen Ölfilm im Suchgebiet deutlich zeigt. Einige Stunden später wird auch offiziell bestätigt, dass die Passagierliste keine terrorverdächtigen Personen enthalten hat.

Nun bleibt also abzuwarten wie schnell die stummen Zeugen der Katastrophe gefunden werden können, der Cockpit-Voice-Recorder mit den Sprachaufzeichnungen aus dem Cockpit und der Flugdatenschreiber. Sollten die Geräte beim Aufprall nicht beschädigt worden sein und bis zum Schluss aufgezeichnet haben, dann wird sich das Mysterium um Flug MS 804 erneut einen weiteren wichtigen Schritt auflösen lassen. Doch wann und wie diese Erkenntnisse in welchem Umfang der Öffentlichkeit präsentiert werden, steht noch in den Sternen. Auch hier müssen die vielen Details erst einmal ausgelesen, synchronisiert und dann minutiös interpretiert werden, bevor sich daraus irgendwelche Schlüsse ziehen lassen. Parallel dazu müssen die Wartungsunterlagen des Flugzeuges durchforstet, Zeugen – also z.B. Piloten, die das Flugzeug zuvor geflogen sind, befragt und viele weitere Hintergrundinformationen zusammengetragen und analysiert werden.

Flugunfalluntersuchung unterliegt einem völkerrechtlichen Vertrag, der in seinen Ausführungsbestimmungen auch genau beschreibt, wie eine solche Untersuchung geführt wird. Wen es interessiert: unter dem ICAO Annex 13 kann man das nachlesen. Wesentlich ist, dass man zu Beginn einer Untersuchung erst einmal alle möglichen Ursachen in Betracht zieht und dann systematisch durch positive und eindeutige Beweise belegt die einzelnen Szenarien ausschließt, die es nicht gewesen sein können. Am Ende bleiben so meist nur eine kleine reihe von Ursachen übrig. Es obliegt einzig und allein der Unfallkommission all diese Erkenntnisse dann zu würdigen und die Ursachen, bzw. oftmals auch die Verkettung mehrerer Einzel-Ursachen, welche dann letztendlich in einer Katastrophe gipfelten, zu benennen. Ohne jegliche Schuldzuweisung.

Denn, und auch das wird von Medien und der Öffentlichkeit gerne immer wieder vergessen: Flugunfalluntersuchung sucht nicht nach einem oder den Schuldigen für eine Katastrophe, sondern immer nur nach der Ursache. Völlig neutral und unabhängig von einer Verschuldensfrage. Nur wenn die Ursachen für Unfälle lückenlos und eindeutig aufgeklärt werden können, kann man in Zukunft verhindern, dass sich ein solches Ereignis wiederholt. Dies ist das Grundprinzip von Flugsicherheit. Ein Denken und Handeln in Präventionen. Aber auch das deckt sich nur selten mit dem Sensationsdrang unserer, fast möchte man sagen, „entarteten“ digitalen und immer schnelllebigeren Medienlandschaft. Diese korrigiert sich leider aber nur sehr ungern im Nachhinein selber, auch wenn man weit über das Ziel hinaus geschossen ist. Sehr bedenklich ist aus meiner Sicht allerdings, dass inzwischen offenbar auch ehemals renommierte Agenturen ihre Sorgfaltspflichten beim Sammeln und Verbreiten von Informationen immer häufiger aus dem Blick verlieren. Oder haben Journalisten heute einfach verlernt wie man sauber recherchiert und was ein Crosscheck ist, bevor man etwas ins World Wide Web hinaus lässt? Dann gäbe es hier sicherlich einen sehr großen Schulungsbedarf.