FLUGBEGLEITER ALS »MENSCHLICHE SENSOREN« MISSBRAUCHT
Knapp dreieinhalb Jahre nach dem Unfall einer Boeing 757 der Condor auf der Kanareninsel Las Palmas hat nun die spanische Untersuchungskommission ihren Abschlussbericht veröffentlicht. Fest steht jetzt: Mehrere Besatzungsmitglieder erlitten gesundheitliche Schäden durch kontaminierte – also vergiftete – Atemluft. Zwei sind auch heute immer noch krank und dauerhaft arbeitsunfähig: Die damals 48-jährige Chefstewardess und eine 37-jährige Flugbegleiterin. Die genauen Ursachen der Vergiftungen konnten zwar nicht ermittelt werden, aber die Kommission fordert in ihrer Sicherheitsempfehlung, dass die Welt-Luftfahrt-Behörde ICAO „weitere Forschungen und Studien überwachen soll, um die Auswirkungen von kontaminierter Kabinenluft auf die Gesundheit zu erfassen und die Sicherheit, wo nötig, zu erhöhen.“
von Tim van Beveren, Berlin
Der Bericht der Comisión de Investigación de Accidentes e Incidentes de Aviación Civil (CIAIAC) enthält allerlei durchaus interessante Details über den Unfallhergang, und sogar inklusive seines Nachspiels. Aber obwohl dieser Bericht versucht – wie bisher kein anderer Unfallbericht im Zusammenhang mit vergifteter Kabinenluft -, die unterschiedlichen Standpunkte von Industrie und Betroffenen abzuwägen, enthält er auch zahlreiche Ungenauigkeiten und sogar einige gravierende faktische Fehler. Deshalb fordern die betroffenen Flugbegleiterinnen genauso wie die Gewerkschaft Verdi, dass die Untersuchungen wieder aufgenommen werden. Es wird unter anderem kritisiert, dass die Akte offenbar viel zu früh geschlossen wurde, nämlich zu einem Zeitpunkt, als noch gar nicht alle endgültigen und hier speziell die medizinischen Befunde auf dem Tisch lagen.
Die deutsche Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) war mit einem akkreditierten Vertreter an der Untersuchung beteiligt und erklärte auf Nachfrage, dass der spanische Bericht nur auf „den Erkenntnissen basiert, die den Untersuchern zum Redaktionsschluss des Berichtsentwurfes (Oktober 2015) vorlagen“. Die Wahl der Aspekte, welche die Kommission letztendlich im Bericht würdigte, scheint jedoch selektiv. Bezüglich der spanischen CIAIAC ist es wichtig anzumerken, dass nicht die eigentlichen Untersucher das letzte Wort bei einem Unfallbericht und seinem Wortlaut haben, sondern ein politisch besetztes „Board“, das diesen letztendlich freigibt.
Condor Flug DE 5944, 23. März 2013
Aber der Reihe nach: Der Flug DE 5499 war am 22. März 2013 um 11:44 Uhr mit 233 Passagieren und einer achtköpfigen Besatzung in Hamburg gestartet. Kurz vor dem Start wurde die Maschine enteist.
Der Reiseflug verlief routinemäßig. Aber im Sinkflug, auf einer Höhe von etwa 6.000 Fuß (1.830 m), bemerkte die Besatzung einen starken Geruch, der aus der Air Conditioning zu kommen schien. Die Kabinenchefin fragte ihre Kolleginnen, die den Geruch ebenfalls wahrnahmen, und verständigte daraufhin das Cockpit. Etwa zwei Minuten später informierte der Erste Offizier den Kapitän, dass er sich leicht benommen fühlte. Der Kapitän riet ihm daraufhin die Sauerstoffmaske aufzusetzen. Diese Maßnahme führte beim Co-Piloten zu einer sofortigen Verbesserung des Zustandes. Kurz darauf landete die Maschine ohne Probleme.
Nachdem die Passagiere ausgestiegen waren und sich die Besatzung schon auf den Rückflug nach Hamburg vorbereitete, befragte der Kapitän die Besatzung über ihr Befinden. Sie sollten auf einer Skala von 1 bis 5 ihren Zustand beurteilen, wobei 1 „sehr gut“ und 5 „sehr schlecht“ bedeuten sollte. Bereits gleichzeitig zu dieser Anfrage musste sich eine Stewardess übergeben und konnte daher keine Angaben machen. Dieser Umstand wird aber im Bericht nicht erwähnt. Zwei weitere Besatzungsmitglieder gaben ihren Zustand mit „4“ an. Die gesamte Kabinenbesatzung klagte über Kopfschmerzen und verspürte Übelkeit.
Eigentlich hätte der Kapitän bereits hier den Rückflug absagen müssen. Schon zu diesem Zeitpunkt waren damit drei Mitglieder seiner Kabinenbesatzung im Prinzip nicht mehr in der Lage, den Rückflug sicher durchzuführen. Aber der erst 35-jährige Kommandant entschied sich anders – und auch die CIAIAC hat damit offenbar kein Problem, denn diese Aspekte werden nicht weiter von den Untersuchern kommentiert oder gewürdigt.
Crew als „menschliche Sensoren“
Auf Anweisung der Condor-Wartung in Frankfurt am Main wurde die Maschine von Bodentechnikern in Las Palmas in Augenschein genommen. Da dabei keine Auffälligkeiten festgestellt wurden, entschied sich die Besatzung, einen Testlauf der Triebwerke und der Klimaanlage durchzuführen. Aber obwohl drei der acht Kabinenbesatzungsmitglieder ausdrücklich darum baten, das Flugzeug während dieses Testlaufes zu verlassen, wurde der Testlauf mit ihnen an Bord auf einer Außenposition neben der Startbahn durchgeführt. Dies erfolgte angeblich aus Zeitgründen, um danach ein schnelleres Einsteigen der Passagiere für den immer noch geplanten Rückflug zu ermöglichen. In Ermangelung von geeigneten Testgeräten bzw. Sensoren wurde dabei die gesamte Kabinenbesatzung vom Kapitän als „menschliche Sensoren“ zwangsverpflichtet und benutzt.
Genau in dieser Handlung sieht der Wiesbadener Luftrechtsexperte Professor Dr. Ronald Schmid eine „grob fahrlässige Fürsorgepflichtverletzung“ seitens der Condor. „Gerade die Condor wusste meines Erachtens aufgrund eigener Untersuchungen schon seit 2009 bestens auch über die möglichen gesundheitlichen Folgen bescheid, die eintreten können, wenn Crew oder Passagiere vergiftete Kabinenluft einatmen.“, so Schmid. Die Condor wollte sich hierzu nicht äußern, auch nicht auf Nachfrage.
Als dann auf dem Vorfeld die Zapfluft der Hilfsgasturbine im Heck (APU) und das linke Air-Conditioning-Pack verbunden wurden, trat sofort erneut ein starker Geruch auf. Sekunden später meldeten Flugbegleiterinnen, dass ihre Kolleginnen auf der Position 2 L/R an der zweiten Tür der Boeing körperliche Probleme zeigten. Der Testlauf wurde daraufhin abgebrochen, die Türen der Maschine zum Lüften geöffnet. Beide Stewardessen erhielten Not-Sauerstoff. Obwohl sofort um einen Krankenwagen gebeten wurde, dauerte es aber noch weitere 15 Minuten, bevor die beiden verletzten Stewardessen von Bord und in die Flughafenklinik gebracht werden konnten. Von dort wurden beide in ein Krankenhaus in der Innenstadt geschickt. Auch diese relativ lange Zeitspanne, die es brauchte Verletzte aus dem Flugzeug auf dem recht „überschaubaren“ Flughafen von Las Palmas zu bergen, bleibt von der Kommission unkommentiert. Der Rückflug fiel nun endgültig aus.
Nachdem die Kabinenbesatzung das Flugzeug verlassen hatte, führten der Kapitän, Copilot und Techniker noch eine Reihe von Tests durch. Dann wurden sie durch einen Anruf aus Frankfurt informiert, dass die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung angewiesen habe, alle weiteren Maßnahmen sofort zu stoppen und die Maschine bis zum Eintreffen eines Ermittlerteams zu sichern. Allerdings konnte diese Anweisung nicht verhindern, dass zwischenzeitlich die relevanten Aufnahmen des Cockpit-Voice-Recorder bereits überschrieben worden waren.
Ungereimtheiten
Der Bericht listet aber nur ein schwerverletztes und zwei leichtverletzte Besatzungsmitglieder der Boeing 757-300 mit der Registrierung D-ABOC auf. Das ist eindeutig falsch.
Wie der Kieler Anwalt Axel Höper, der die verletzte Chefstewardess des Fluges DE 5944 vertritt, auf Anfrage schriftlich mitteilte, hat inzwischen der deutsche Rentenversicherungsbund den Anspruch seiner Mandantin auf eine Rente wegen „voller Erwerbsminderung, rückwirkend seit dem Unfalltag, anerkannt“. Das zuständige Landesamt für soziale Dienste hat ihr zudem das Vorliegen einer 50-prozentigen Behinderung bescheinigt.
Aber der für Berufsunfälle zuständige Rückversicherer der Condor, die Berufsgenossenschaft Verkehr, hat alle Leistungen über den 28. März 2013 hinaus, also fünf Tage nach dem Unfall, abgelehnt. Die invalide Kabinenchefin und ihr Anwalt sahen sich so regelrecht gezwungen, Klage beim Sozialgericht Schleswig (S 7 U 66/16) einzureichen.
Auch die Zweite dauerhaft erkrankte, teil invalide und arbeitsunfähige Stewardess des Fluges DE 5944, die Berlinerin Freya von der Ropp, muss gegen die gesetzliche Unfallversicherung den Klageweg bestreiten. Obwohl es sie schwerer getroffen hat als ihre Kollegin, – sie ist seit dem Vorfall gehbehindert und leidet an erheblichen kognitiven Beeinträchtigungen -, wurde bei ihr bisher offiziell weder eine Erwerbsunfähigkeit noch eine Teilinvalidität anerkannt. Im Gegenteil: Das Berliner Arbeitsamt möchte sie kurzfristig am liebsten wieder in den Arbeitsprozess integrieren, zum Beispiel als Bodenpersonal am Flughafen Tegel. Dabei ist sie gesundheitlich dazu gar nicht in der Lage. Die alleinerziehende Mutter zweier Kinder muss daher um ihre Existenz fürchten. Derzeit lebt sie noch von ihrem Ersparten, wenn das aufgebraucht ist, bleibt ihr nur noch Sozialhilfe à la Hartz IV. Allerdings wird sie im spanischen Bericht ausdrücklich als „schwer verletzt“ aufgeführt.
Die Dritte, damals 19-jährige betroffene Stewardess, ist zwar nach dem Unfall noch einige Zeit bei der Condor und danach vereinzelt bei der Lufthansa geflogen. Doch sie hatte immer wieder gesundheitliche Probleme. Ihre Ärzte attestierten ihr schließlich erhebliche Lungenprobleme, ihr blieb also nichts anderes übrig, als ihren Beruf aus gesundheitlichen Gründen aufzugeben.
Dies ist alles umso verwunderlicher, zumal zwar vor Ort in Las Palmas keine genauen Ursachen für den Vorfall ermittelt werden konnten, die Unfallmaschine dann jedoch auf dem Rückflug ohne Passagiere nach Frankfurt am 26. März 2013 drei weitere „Fume/Smell Events“ erlebte und die Besatzung mehrfach gezwungen war die Sauerstoffmasken anzulegen. Diese neuen Vorfälle wurden zwar der BFU angezeigt, jedoch nicht von dieser als ein weiterer neuer Fall untersucht. Hierzu teilte die BFU auf Nachfrage mit: „Der Rückflug ist aus spanischer Sicht ein Bestandteil der Untersuchung.“ Allerdings teilte die BFU auch mit, dass die D-ABOC hiernach noch in vier weitere Vorfälle verwickelt war, am 9. Mai 2013 auf dem Flug von Rhodos nach Hamburg (dieser Fall wird unter dem Aktenzeichen BFU PX004/13 untersucht) sowie am 17. Juni, 6. November und noch einmal am 13. Dezember 2013. Doch die letzten drei genannten Fälle wurden offenbar von der BFU als „nicht untersuchungswürdig“ eingestuft, sie tauchen nämlich auch in den monatlichen Berichten der Behörde nicht auf.
Drei weitere Vorfälle auf dem Rückflug
Interessant ist auch der Umstand, dass auf dem besagten Rückflug am 26. März während des Fluges Luft-Messungen mit Hilfe eines Graywolf Messgerätes und eines Aerotracers durchgeführt wurden. Allerdings scheinen, so der Unfallbericht, diese Geräte dabei nur sehr bedingt geeignet zu sein Kabinenluft-Vergiftungen auf die Spur zu kommen, besonders wenn es sich um leicht flüchtige Stoffe, sogenannte VOC’s handelt. Denn der Graywolf Sensor kann solche Stoffe wie z.B. Chloridflurmethan, Chloroform, Formaldehyd, Methan und Methanol sowie einige andere Komponenten gar nicht detektieren. Der Aerotracer, ein gemeinsam von der Firma Airsense Analytics und Lufthansa Technik entwickeltes Analysegerät, dass nach Herstellerangaben in der Lage sei „gebräuchliche flüchtige Substanzen, die für Flugzeuge verwendet werden“ zu detektieren, zeigte gar nichts an. Trotzdem wurden und werden diese Geräte von Airlines und Wartungsbetrieben bevorzugt immer wieder nach sogenannten „Fume/Smell Events“ zur Ursachenforschung eingesetzt, meist mit dem ernüchternden Ergebnis und der Rückmeldung an Flugunfalluntersuchungsbehörden: „es konnte nichts Auffälliges gefunden werden“.
Darüber hinaus wurden in den folgenden Tagen aber auch weitere Proben an Bord der Unfallmaschine, sowie auf Testflügen genommen. Hier war dann auch der chemisch-technische Assistent der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), Wolfgang Rosenberger ( ich berichtete), verantwortlich beteiligt. Überraschenderweise angeblich wiederum „ohne auffällige Befunde“.
Aus einer mir vorliegenden internen Mitteilung des Condor-Krisenstabes vom 28. März 2013 geht hervor, dass die Condor offenbar in dem inzwischen aufgrund seiner fehlenden akademischen und auch ansonsten fragwürdigen Qualifikation in Verruf gekommenen MHH-Laborleiter Rosenberger einen durchaus kompetenten Experten gesehen hat. Im Protokoll heißt es: „Herr (…) wird Kontakt zu Herrn Dr. Rosenberger aufnehmen, damit dieser ebenfalls die Messungen begleiten kann.“ Rosenberger verfügt aber nicht über solche Qualifikationen, noch einen Doktortitel, geschweige denn hat er Chemie studiert und nach einer Mitteilung des Regierungspräsidiums Darmstadt als Reaktion auf den vorgenannten Artikel, erfüllen er und sein Labor gar nicht die Voraussetzungen solche Gefahrenstoffmessungen überhaupt durchführen zu dürfen.
Das gleiche Protokoll listet aber auch einen weiteren „Smoke- und Smell-Vorfall“ mit der D-ABOC nur zwei Tage vor dem Unfallflug auf. Hierzu heißt es dort: „Laut Informationen der BFU liegt der Behörde eine Information über ein Smoke & Smell Event vom 20.03.13 vor.“ Heute aber scheint dieser Fall in den Akten der BFU nicht mehr auffindbar zu sein. Die deutsche Behörde erklärte auf Nachfrage, dass ihr hierzu „keine Informationen“ vorlägen.
Hohe Triebwerkslaufzeiten
Schließlich fällt auf, dass die beiden Rolls-Royce RB211 Triebwerke der Unfallmaschine recht hohe Laufzeiten aufwiesen. Das linke Triebwerk hatte 28.941 und das rechte sogar 41.541 Stunden verzeichnet. Zuletzt wurden sie im Juli 2011 bzw. im Februar 2010 überholt, so der spanische Bericht und waren bis zum Unfallflug seitdem 5.201 bzw. 9.280 Stunden gelaufen. Angaben zur Laufzeit der APU und ihrer letzten Wartung finden sich im Bericht nicht.
In langen Laufzeiten von Triebwerken und Hilfsturbinen vermutet der britische Luftfahrt-Ingenieur Graeme Davidson eine der Hauptursachen für die seit einigen Jahren eklatant angestiegenen Beschwerden über kontaminierte Kabinenluft. Davidson war lange Jahre für den Triebwerkshersteller Rolls-Royce tätig und beschäftigte sich schon in den 90er-Jahren für den britischen Flugzeughersteller British Aerospace mit der Kabinenluft-Problematik:
„Die Laufzeiten der Triebwerke zwischen den vorgeschriebenen Wartungsintervallen wurden wegen der höheren Zuverlässigkeit und weil man heute die wesentlichen Laufdaten konstant, bzw. teilweise ja auch im Flug überwacht, immer weiter verlängert. Das ist von der Kostenseite her auch sicherlich zu begrüßen, denn so kann man einfach „mehr“ aus einem Triebwerk rausholen. Allerdings sind die Karbon Dichtungen im Inneren der Triebwerke das Problem. Sie erzeugen Abrieb und verschleißen naturgemäß. Das wiederum führt zu Leckagen und so können kleine Mengen Öl in den Luftstrom des Zapfluftsystems gelangen. Andererseits kann man aber genau diese Dichtungen nur dann austauschen, wenn das Triebwerk bei einer Überholung komplett zerlegt wird, und dazu muss man es vom Flugzeug abnehmen.“ erklärt Davidson.
Aber auch hierzu, und ob die Condor Herrn Rosenbergers nicht existierende Qualifikationen der spanischen Untersuchungsbehörde überhaupt mitgeteilt hat, wollte sich die Condor nicht äußern.
Enteisungsmittel
Im Rahmen der weiteren Unfalluntersuchungen rückte schnell ein Stoff in den Fokus der Ermittlungen: Enteisungsflüssigkeit. Die Maschine war vor dem Abflug in Hamburg enteist worden und in Las Palmas fanden Techniker fünf Liter von Enteisungsflüssigkeit in der Bodenschale der Hilfsgasturbine (APU) im Heck der Maschine. Dies ließ sich nur so erklären, dass sie beim Enteisungsvorgang entweder über die bei der Boeing 757 seitlich der Leitwerkwurzel befindlichen Luftöffnungen beim Enteisungsvorgang dort hineingespritzt wurde, oder es handelte sich um Reste, die durch den Fahrtwind im Startlauf dort eindrangen. Das ist eigentlich ein schon lange bekannter Problembereich, denn beim Enteisen muss das Leitwerk abgesprüht werden, andererseits läuft quasi zwangsläufig dabei auch immer wieder Enteisungsmittel in die Luftschächte und kann beim Betrieb der APU angesaugt werden.
Die Kommission kommt aber zu dem Schluss, dass Analysen bestätigt hätten, dass beim Erhitzen dieser Flüssigkeit keine anderen Stoffe als nur Glykol freigesetzt würden. Dies könne zwar kurzfristig zur Irritation an Augen und Atemwegen führen, sei aber ansonsten nicht gesundheitsbedenklich, solange man es nicht verschluckt. Diese Schlussfolgerung ist nach Ansicht einiger Experten und Mediziner allerdings etwas vorschnell. Denn die Unbedenklichkeit solcher Enteisungsmittel wurde Hersteller-seitig nur für Temperaturen von maximal + 75 Grad C bestimmt. Crews und Passagiere trinken normalerweise keine Enteisungsflüssigkeit. Aber Teile dieser Enteisungsflüssigkeiten könnte über die Triebwerke und das Zapfluftsystem in die Frischwasserversorgung des Flugzeuges gelangen. Denn was nur wenige Passagiere und Crews wissen: Auch der Druck auf den Wassertanks wird in der Regel mit Zapfluft von den Triebwerken erzeugt. Filter sind hier nicht vorgeschrieben und folglich auch nicht eingebaut.
Bei den nun durchgeführten Labortests wurde das Mittel aber immerhin auf + 200 Grad Celsius erhitzt und analysiert. Hier wenden erfahrene Boeing-757-Piloten und der britische Luftfahrt-Ingenieur Davidson allerdings ein, dass die Temperatur im Inneren des Kompressors einer APU weitaus höher liegen kann, nämlich zwischen 300 und 450 Grad C. Bisher wurde nicht geklärt, was am Ende mit bereits vorhandenen Ablagerungen in den Luftschächten (air-ducts) passiert, darunter eventuell auch Resten von Ölen, Hydraulikflüssigkeiten und anderen Schmierstoffen. Erst recht, wenn dann erhitzte und glykolhaltige Zapfluft aus der APU auf diese Ablagerungen trifft.
Auch hier wäre eine sorgfältige Untersuchung angebracht, denn glykolhaltige Reinigungsmittel, wie beispielsweise Cyclean, werden auch für Triebwerkswäschen verwendet, da sie auch geeignet sind, Schmutzpartikel und Öl-Ablagerungen zu lösen und auszuwaschen.
Neuere Erkenntnisse nicht berücksichtigt
Überhaupt und das ist auffällig, fehlen in dem Bericht und den zu seiner Abfassung verwendeten Literaturangaben einige jüngere wissenschaftliche Studien vollständig, ohne dass hierfür Gründe angegeben sind. So setzt sich die Kommission weder mit den neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Giftigkeit von gebrauchtem Triebwerksöl auseinander (bislang wurde industrieseits immer nur die Giftigkeit von Frisch-Öl betrachtet und diskutiert) noch mit anderen Feststellungen zur Problematik. So wie es beispielsweise Professor Jeremy J. Ramsden von der Universität Buckingham bereits in einer 2013 erschienen Studie dokumentiert hat (vgl.: Ramsden: On the proportion of ortho isomers in the tricresyl phosphates contained in jet oil, doi: 10.4024/03RA13L.jnpc.13.2), oder auch jüngst eine kanadisch-niederländisch-französische Gruppe von Forschern unter der Federführung von David Megson von der Universität Toronto (http://dx.doi.org/10.1016/j.chemosphere.2016.05.062) und dem kanadischen Umweltministerium.
Auch die forensisch-pathologischen Ergebnisse der Gewebeanalysen des Ende 2012 verstorbenen britischen Piloten Richard Westgate werden nicht aufgeführt. Hier wurden sehr eindeutig Nervenschädigungen und Schäden am Herzmuskelgewebe auf Kabinenluft-Kontamination zurückgeführt, die der British-Airways-Pilot Westgate in seiner Pilotenlaufbahn erlebt hatte.
Stattdessen referiert der Bericht seitenlang aus der inzwischen als in wissenschaftlicher Hinsicht als „unethisch“ entlarvten und darüber hinaus mit Interessenkonflikten belasteten Studie der britischen Luftfahrt-Hochschule Cranfield von 2011. Hierauf greift auch die europäische Flugsicherheits-Behörde EASA in ihrer Einschätzung und Beurteilung des Problems immer wieder gerne zurück. Aber, was nun mit den demnächst anstehenden Ergebnissen der von der EASA in Auftrag gegebenen Luftmessungen passiert, ist fraglich, zumal ja auch hier die MHH und deren Assistent Rosenberger als „federführend“ vor dem Fraunhofer-Institut beteiligt sind.
Auch wird mehrfach im Bericht direkt oder indirekt ausgerechnet der ehemalige Leiter des Flugmedizinischen Dienstes bei British Airways und inzwischen als medizinischer Berater für Airbus tätige Dr. Michael Bagshaw mit seinen Hypothesen über „Hyperventilation“ oder „Nocebo-Effekte“ als Ursache bei betroffenen Besatzungsmitgliedern angeführt.
Dafür haben Anwalt Axel Höper und seine Mandantin überhaupt kein Verständnis: „Mit Verwunderung nehmen wir zur Kenntnis, dass der Bericht die Möglichkeit darstellt, dass die Folgen des Fume-Events psychosomatisch bedingt seien und die Betroffenen letztlich nur hyperventilieren.“, erklärt Höper. „An dieser Stelle fühlt sich meine Mandantin nicht ernst genommen.“
Auch Freya von der Ropp sieht das so: „Ich bin an diesem Tag gesund zum Dienst erschienen und wurde von Sanitätern mit einem Krankenwagen von Bord gebracht. Später wurden dann ganz eindeutig Stoffe in meinem Körper gefunden, die solche Schädigungen, wie ich sie bei dem Vorfall erlitten habe, auslösen. Zu behaupten, dass dies nun nur ‚psychosomatisch‘ bedingt sein soll, ist eine Frechheit und zeigt mir, dass man sich mit den konkreten medizinischen Fakten nicht auseinandergesetzt hat oder will.“
Aber genau auf Argumente à la Bagshaw stützt auch die BG-Verkehr maßgeblich ihre bisherigen Ablehnungsbescheide. Dabei sollte man es dort eigentlich längst besser wissen. Sowohl die Kabinenchefin als auch von der Ropp befinden sich seit 2014 in medizinischer Behandlung am Institut für Arbeitsmedizin der Universitätsklinik Göttingen und damit in der Obhut von Dr. Astrid Heutelbeck. Dort wurden in den vergangenen drei Jahren über 200 Besatzungsmitglieder und Passagiere mit Beschwerden nach akuten Fume/Smell Events untersucht. Die Medizinerin erklärt: „Wir können inzwischen unter anderem auch immer wieder Funktionsstörungen der Lunge im Zusammenhang mit Fume/Smell Events bei betroffenen Patientinnen und Patienten nachweisen. Das hat nichts mit Hyperventilation oder Nocebo-Effekten zu tun. Diese Befunde sind auch der Berufsgenossenschaft Verkehr bekannt, da sie diese auch als Bericht zugesendet bekommt.“
In der Universitätsmedizin Göttingen wurden dann sogar erst Anfang 2016 noch Blutproben untersucht, die den Besatzungsmitgliedern zwar schon 36 Stunden nach dem Unfall und ihrer Rückkehr nach Hamburg in einem Krankenhaus abgenommen wurden, die aber in der Zwischenzeit tiefgefroren eingelagert waren. Darin fanden Dr. Heutelbeck und ihr Team Rückstände von Toluol, n-Hexan, n-Heptan, n-Oktan, Isopropanol, und n-Dekan. Berücksichtigt man die späte Probenentnahme, hier 36 Stunden nach dem auslösenden Ereignis, und die kurzen Halbwertszeiten mancher Stoffe, so z.B. bei Hexan von nur 12 Minuten, ist es erstaunlich, dass überhaupt noch etwas feststellbar war. Genau diese Stoffe fanden sich aber auch in den Messprotokollen, welche die Condor am Boden und auf den Testflügen nach dem Unfall veranlasst hatte und die im Bericht aufgeführt werden. Das wiederum gibt den Medizinern Hinweise, wie hoch die Belastung an Bord zum Unfallzeitpunkt gewesen sein muss und auch, dass hierbei durchaus Gesundheitsschäden eintreten können.
Dr. Heutelbeck erklärt hierzu: „Diese Stoffe sind nicht Bestandteil der allgemeinen Umwelt, sie kommen dort nicht vor und haben in Blut oder Urin von Betroffenen auch nichts zu suchen. Unbedenklich sind diese Stoffe grundsätzlich nicht, weil einige von ihnen durchaus ein human toxisches Potential besitzen. Wie hoch die Konzentration im Moment des Unfalls im Einzelfall war, kann aber nicht ohne weiteres geklärt werden, insbesondere, weil die genauen technischen Hintergründe des Unfalls nicht bekannt sind.“ Dies ist für die Arbeitsmedizinerin eines der Hauptprobleme, weil jeder Vorfall eigentlich erst einmal für sich betrachtet werden muss, und jedes Ereignis auch durchaus andere Symptome bei davon Betroffenen auslösen kann. „Hilfreich wäre es, wenn hierzu die eigentlich gesetzlich vorgeschriebenen Gefährdungsbeurteilungen zu diesen Arbeitsplätzen unter Berücksichtigung der Kabinenluftstörfälle – vorliegen würden, dann hätte man Anhaltspunkte.“, so Heutelbeck weiter, „Mir liegen solche Gefährdungsbeurteilungen aber bis heute nicht vor.“
Für völlig abwegig und nicht zielführend hält die Göttinger Arbeitsmedizinerin auch die im Bericht von Seiten der Untersuchungskommission geführte Diskussion über Luftmessungen und davon abgeleitete „vermeintlich gültige“ Arbeitsplatzgrenzwerte, die angeblich nicht überschritten würden. „Maßgeblich für das Vorgehen zur Beurteilung einer Unfall-artigen Exposition, wie sie bei Kabinenluftzwischenfällen anzunehmen sind, sind in Deutschland die arbeitsmedizinischen Regeln des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Darin ist klar definiert, dass Biomonitoring bei einem Unfall-artigen Ereignis das Instrument der Wahl ist, da für den Moment des Unfalls eben keine Luftmessung vorliegt.“, erklärt Heutelbeck. Das bedeutet: Blut- und Urinproben sind in jedem Einzelfall heranzuziehen und zu bewerten, nicht irgendwelche Grenzwerte, die im Übrigen für ganz andere, nämliche spezielle Gefahrenstoff-Arbeitsplätze, aber nicht automatisch in einem Flugzeug gelten. „Es ist hier zu berücksichtigen, dass es sich bei Arbeitsplätzen von Flugbegleiter und Piloten aus arbeitsmedizinischer Sicht eben nicht um Gefahrstoffarbeitsplätze handelt.“, so Heutelbeck weiter. „Die immer wieder ins Feld geführten Limits gelten aber nur für Gefahrstoffarbeitsplätze, also Orte, an denen mit solchen Gefahrstoffen hantiert wird. Zum anderen wird in den arbeitsmedizinischen Regelungen zu Biomonitoring ausgeführt, dass bei Unfall-artigen Ereignissen nicht ohne weiteres Grenzwerte herangezogen werden können, die darüber hinaus nur für chronische Expositionen gelten.“
Robert Hengster, Bundesfachgruppenleiter Luftverkehr bei der Gewerkschaft Ver.di, begrüßt die Ausführlichkeit des spanischen Berichts ausdrücklich, kritisiert aber, dass die Untersuchung auf „halber Strecke“ stehen geblieben ist und insbesondere, dass die Problematik von Stoffgemischen, wie sie bei Kabinenluftvorfällen auftreten können, nicht angemessen gewürdigt wird. „Wir werden den Bericht jetzt im Detail mit unseren Experten analysieren und mit den uns vorliegenden Informationen, Fakten und dem Stand von Medizin und Wissenschaft abgleichen.“ erklärt Hengster. „Wir werden dann die CIAIAC anschreiben und mit allem Nachdruck um eine Wiederaufnahme der Ermittlung bitten.“
Ähnlich sieht das auch der Berufsverband der deutschen Piloten, Vereinigung Cockpit. Ihr Sprecher, Markus Wahl teilte auf Anfrage mit: „Grundsätzlich müssen in einem Untersuchungsbericht alle zur Verfügung stehenden Fakten und Analysen Berücksichtigung finden. Wenn nun in diesem Falle ganz offensichtlich mehrere Untersuchungen nicht berücksichtigt worden sind, dann muss die Untersuchung um diese Fakten ergänzt und somit neu aufgerollt werden.“
Der Bericht macht jedenfalls auch in seiner nun vorliegend Fassung deutlich, dass es sich bei dem Problem der kontaminierten Kabinenluft nicht – wie von Kritikern immer wieder behauptet – um Hirngespinste von überängstlichen Crewmitgliedern, Verschwörungstheoretikern oder einzelnen «fehlgeleiteten» Journalisten handelt, sondern um ein sehr reales Problem mit sehr realen Auswirkungen für Hersteller, Airlines, Besatzungen und Passagiere. Genau diese letzte Gruppe kommt allerdings in diesem Unfallbericht gar nicht vor. Vielleicht liegt dies daran, dass sich nach dem 22. März 2013 niemand von Ihnen mit Krankheits-Symptomen bei den Behörden gemeldet hat. Die Condor hatte zwar ausweislich ihrer internen Protokolle versucht mit den Passagieren telefonisch in Kontakt zu treten, aber als mögliche Vergiftungssymptome dabei nur auf „Übelkeit“ abgestellt. Folglich enthält der Bericht auch keinerlei Empfehlungen, wie die Gesundheit von Passagieren an Bord besser geschützt oder ihre Sicherheit erhöht werden könnte. Zumindest war das ganz offensichtlich nicht Bestandteil der Analysen und Überlegungen des CIAIAC in diesem Zusammenhang, eben sowenig eine generelle Abkehr von Zapfluft-Systemen oder etwa die Installation von Filtern und Sensoren, wie es Piloten und Gewerkschaften seit mehreren Jahren nachdrücklich anmahnen, – bislang vergeblich.
Die spanische Kommission hebt in ihrer Beschreibung der aktuellen Situation hervor, dass das Fehlen von epidemiologischen Untersuchungen dazu führt, dass die konkreten Auswirkungen der Kabinenluft auf die menschliche Gesundheit nach wie vor im Dunkeln liegen. Vor diesem Hintergrund ist ihre Sicherheitsempfehlung an die Welt-Luftfahrt-Behörde ICAO zumindest ein konsequentes Fazit und sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Bleibt allerdings abzuwarten, ob das Verfahren jetzt, wo wesentliche neue Fakten auf dem Tisch liegen, doch noch einmal eröffnet und die sich daraus ergebenden Erkenntnisse auch im Hinblick auf die verletzten Besatzungsmitglieder angemessen, unparteiisch und ohne politische Vorgaben gewürdigt werden.
Siehe auch: «Der Hauptmann von Hannover»